veröffentlicht im Juni 2016
in der Fachzeitschrift für Autorinnen und Autoren „Federwelt“ Nr. 118

Heute schon geschrieben?
Teil 2: Figuren entwickeln, Namen finden, eine lebendige Figurencharakterisierung schreiben

Mit unserem für die Federwelt adaptierten Heute-schon-geschrieben?-Mitmachkurs möchten wir Sie einladen, eine Kurzgeschichte zu entwickeln, die das Zeug hat, in einer Anthologie zu landen oder bei einem Wettbewerb zu überzeugen. Dafür liefern wir schrittweise die Theorie, Übungen und eine Schreibaufgabe zum Lösen und Einsenden. (Und natürlich sprechen wir alle heißen Problemeisen an! Dinge, die vielen AutorInnen zu Anfang Probleme bereiten.)

Erreicht uns zur jeweiligen Aufgabe ein Text, den wir klasse finden, drucken wir ihn (oder einen Auszug daraus) im nächsten Heft, zusammen mit einer kurzen Begründung von Diana Hillebrand, was genau diesen Text „veröffentlichenswert“ macht. Zum Mitlernen für alle! (Einsendeschluss diesmal ist der 20. Juni 2016.)

Für den Abdruck erhält die Autorin/der Autor eine signierte Gesamtedition von „Heute schon geschrieben?“. Wer sich am Ende der Reihe mit seiner Kurzgeschichte ins Kursfinale schreibt, gewinnt dazu: die kostenlose Teilnahme an einem Schreibkurs seiner Wahl bei Diana Hillebrand in der WortWerkstatt SCHREIBundWEISE in München, inklusive Verpflegung, exklusive Anreise und Unterkunft. (Der Gewinn ist nicht auszahlbar. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.)

Und nun geht’s los ...

Figuren atmen!*

Im zweiten Teil Ihres Schreibkurses widme ich mich einem äußerst wichtigen Thema: den Figuren. Ich möchte Sie ermutigen, dass Sie Ihre Figuren zu sich nach Hause einladen. Gehen Sie zusammen in die Badewanne! Ich möchte, dass Sie ihnen in die Seele schauen. Ich möchte, dass Sie Ihre Hauptfiguren herausfordern, alles zu geben. Sie sollen nackt und zitternd vor Ihnen stehen und aus sich heraus ungeahnte Kräfte entwickeln. Ich wünsche mir, dass Sie sie so nah an sich herankommen lassen, dass Sie ihren Atem im Nacken spüren.

Figuren sind oft der Schlüssel zu guten Geschichten. Immer wieder habe ich erlebt, dass meine Schreibkurs-TeilnehmerInnen nur deshalb auf Seite 100 (oder schon vorher!) nicht mehr weiterwussten, weil sie ihre Figuren nicht gut genug kannten, weil die Figuren und deren Motivation nicht stark genug waren, um die Handlung zu tragen.

Die Meinungen gehen auseinander, ob der Plot (Handlungsrahmen) oder die Figuren die Initialzündung für eine Geschichte darstellen. Tatsächlich gibt es hier keine Richtig-oder-falsch-Antwort.

Allerdings kann ich aus der Praxis berichten, dass es eine sehr gute Möglichkeit ist, über die Hauptfiguren in die Geschichte hineinzufinden. Vielleicht liegt es daran, dass diese Herangehensweise zunächst weniger abstrakt erscheint, als einen kompletten Plot-Plan zu entwerfen. Viele SchriftstellerInnen haben daher bereits zu Anfang eine (sehr klare) Vorstellung von ihren Hauptfiguren. Sie wissen um deren Stärken und Schwächen und könnten genau sagen, was sie frühstücken würden.

Natürlich muss jeder für sich selbst entscheiden, ob dies der richtige Weg ist, sich seiner Kurzgeschichte, seinem Buch zu nähern. Zum Glück gibt es keinen Generalschlüssel, sondern – wie immer – verschiedene Wege, die zum Ziel führen. Ich persönlich gehöre zu denen, die ihre Figuren sehr genau kennen, bevor sie anfangen zu schreiben. Für mich ergibt sich aus dem Charakter der Figur und deren Hintergrund ein Teil der Kernhandlung.

Einige literarische Figuren sind so einprägsam, dass sie fast jeder kennt. Denken Sie an Winnetou, Tom Sawyer, Pippi Langstrumpf, Jean-Baptiste Grenouille, Felix Krull  ... Diese Hauptfiguren machen die Bücher lebendig. Durch sie erleben wir die Handlung hautnah. Der Leser identifiziert sich mit ihnen, schlüpft gedanklich in sie hinein (vielleicht der schönste Moment beim Lesen) und leidet und freut sich mit der Hauptfigur. Manchmal lösen die Protagonisten (Hauptfiguren) auch Entsetzen in uns aus, wie im Fall von Jean-Baptiste Grenouille aus dem Erfolgsroman Das Parfum. Trotzdem schlüpfen wir auch in seinen Kopf und verfolgen gebannt, wie er sich auf die Suche nach dem perfekten Geruch macht. Denn Grenouille hat ein grundlegendes Problem, das den gesamten Roman beherrscht: Er hat keinen Eigengeruch. Sie dürfen sich sicher sein, dass Patrick Süskind seiner Hauptfigur diese Eigenschaft ganz bewusst gegeben hat.

Und was wäre Pippi Langstrumpf ohne ihre übermenschliche Kraft? Vielleicht eine hilflose Halbwaise, die bei ihren Leserinnen Mitleid erregen würde? Aber Pippi kann Pferde heben und sich gegen alles Böse auf unnachahmliche Art zur Wehr setzen.

In Bernhard Schlinks grandiosem Roman Der Vorleser nimmt die Handlung eine überraschende Wendung, als sich herausstellt, dass eine der Hauptfiguren weder lesen noch schreiben kann.

Natürlich habe ich an dieser Stelle nur einige Merkmale der Hauptcharaktere herausgegriffen. Sieht man genau hin, stellt man fest: Die AutorInnen haben den Figuren sehr viel mehr Eigenschaften mit auf den Weg gegeben. In der Regel Stärken und Schwächen. Eine Pippi Langstrumpf ist nicht nur stark. Sie ist auch einsam, weil ihre Mutter tot ist und ihr Vater immer auf den Weltmeeren unterwegs. Sie merken schon, spannende Charaktere sind vielschichtig.

Praxistipps:

  • Ihnen fehlt noch der ideale Name für Ihre Figur? Wenn Sie als Platzhalter eine Zeichenkombination einsetzen wie XXX, finden Sie diese Stellen in Ihrem Text über die Word-Funktion Strg + H (= Suchen + Ersetzen) schnell wieder und können diesen einfach gegen den Namen austauschen!
  • Auf der Website www.beliebte-vornamen.de finden Sie ausführliche Listen der beliebtesten Vornamen von 1890 bis heute.
  • Sollten Sie mit einem Namensgenerator (www.schreiblabor.com) arbeiten, prüfen Sie bitte, ob der Name möglicherweise tatsächlich existiert. Sie sollten darauf achten, dass Sie nicht die Persönlichkeitsrechte von einer in der Öffentlichkeit stehenden Person verletzen. Theoretisch könnte der Namensgenerator nämlich auch reale Namen ausspucken.

Schritt 1: Aus Namen Leute machen*

Wenn wir einen Namen lesen oder hören, entsteht ein Bild in unserem Kopf. Wir haben eine Vorstellung, wie die Person aussieht und oft sogar welchen Charakter sie hat.

Zunächst ein paar Beispiele von mir:

Paula Plitz – kann schneller rennen als die meisten Jungs. Überhaupt macht sie vieles sehr schnell. Sie spielt gern Fußball und saust mit dem Fahrrad an der Isar entlang. Allerdings leidet sie sehr unter der Tierhaarallergie ihrer Mutter. Dabei hätte Paula so gern ein eigenes Haustier. Übrigens kommt der Name Paula aus dem Lateinischen. Er bedeutet auch die Kleine. Und in meinen Büchern ist sie ein Kind. Passt also ganz gut.

Denny Strich – führt eine typisch bayerische Boazn mitten in München-Giesing. Er ist erst 35 Jahre alt, jünger als seine Stammkunden, die bei ihm gern ein Rüscherl kippen. Denny verabscheut Alkohol und gießt heimlich Wasser in sein Schnapsglas.

Nachfolgend habe ich einige Namensbeispiele für Sie aufgelistet. Spüren Sie zunächst in den Klang des Namens hinein. Finden Sie anschließend seine Bedeutung heraus. Im dritten Schritt schreiben Sie auf, welche Charaktere sich aus Ihrer Sicht hinter den Namen verbergen könnten:

Mathilde Beifuß – ist Kräuterweiblein, Hundetrainerin oder etwas anderes? Entscheiden Sie!

Und wie sieht es mit folgenden Namen aus? Welche Eigenschaften, Berufe, Vorlieben oder Abneigungen, welche Charaktere könnten dahinterstecken?

  • Jin Che
  • André Lamour
  • Johanna Trommler
  • Jana Bogdanova
  • Francesco Cremonesi

Schritt 2: Schreibübung: Der Einkaufszettel*

Auf so einem Einkaufszettel spiegelt sich das Leben einer Person. – Schreiben Sie einen Einkaufszettel für Ihre Figur. Überlegen Sie sich, was sie einkauft und wofür diese Einkäufe stehen. Kommt nur Bier in den Korb? Oder werden heimlich Windeln gekauft, weil die Figur eine Blasenschwäche hat? ...

Schritt 3: Kleine Figurenschmiede*

Sie haben den Namen für eine Hauptfigur in Ihrer Kurzgeschichte und wissen, was sie einkauft, was sie liest, liebt, hasst, wie sie aufgewachsen ist und mit welchen „inneren Dämonen“ sie kämpft? Dann schreiben Sie jetzt einige Sätze zu Ihrer Figur und ihrem Ziel. Öffnen Sie dazu Ihr Normseiten-Dokument und speichern Sie es unter dem Namen Figurenschmiede.

Vorab ein Beispiel von mir: Hanna lebt in einer WG. Sie hat rostbraune widerspenstige Haare, die sich – genau wie sie – nur schwer bändigen lassen. Leider lebt sie in der WG momentan allein, weil sie mit den letzten Mädels nicht klargekommen ist. Ganz unschuldig ist Hanna daran nicht. Aber das gibt sie nicht so gerne zu. Jetzt ist sie auf der Suche nach Männern für die WG und vielleicht auch für mehr.

Schreiben Sie los! Schreiben Sie eine lebendige Ein-Absatz-Charakterisierung zu Ihrer Figur, die mit Leerzeichen maximal 900 Zeichen umfasst. ...

*Adaption aus „Heute schon geschrieben?“, Band 1

Cover der Federwelt Nr. 118

Dieser Artikel wurde im Juni 2016 in der
Federwelt — Zeitschrift für Autorinnen und Autoren —“ veröffentlicht.

Autorin: Diana Hillebrand | www.diana-hillebrand.de